Gymnasium Hohenschwangau gedenkt am Freitag, dem 8. November, der Reichspogromnacht 1938

2019 11 08 Lesenacht Pogrom2„Kein gutes Gefühl“ – vom stillen Schweigen zum lauten Schweigen

„Wir werden wirklich an dieser Sache zugrunde gehen“, notiert am 14. Januar 1933 Viktor Klemperer in seinem Tagebuch und meint damit die Schwierigkeiten beim Hausbau. Die Tagebücher von 1933 bis 1945 des Romanisten Klemperer sind wichtige Schilderungen des Alltags im Nationalsozialismus, den er als zum Protestantismus konvertierter Jude nur dokumentieren kann, weil er in einer Mischehe, wie man damals sagte, lebte – trotzdem war er ständig von „Evakuierung“ (Deportation!) bedroht.

Noch im Januar 1933 ist das Ausmaß der Diktatur des Nationalsozialismus völlig unvorstellbar. Im Jahr 2019 gilt dies nicht mehr, umso erschütternder sind die Anschläge auf eine Synagoge in Halle und eine Moschee in Dortmund. Deshalb gedachte das Gymnasium Hohenschwangau mit einer szenischen Lesung des schwierigen deutschen Gedenktages 9. November, der von Mitgliedern des Hogauer Lehrerkollegiums sowie den Schülerinnen Regina Hengge und Anabel Kreutzer vorbereitet wurde.

Die Lesung der Tagebücher Klemperers erfolgte unter den Überschriften „Atmosphärische Veränderungen“ (Georg Grimm), „Schikane und Momente der Menschlichkeit“ (Florian von Polenz), „Emigration und Identität“ (Kreutzer und Hengge), „Evakuierung und KZ“ (Sabine Thilemann). Mit der Lesung aus den Erinnerungen Max Mannheimers (Claudia Geiger) wurden dann der Transport in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und Innenansichten des Lagerlebens in Erinnerung gerufen. Darüber hinaus belegten Tondokumente von Hermann Göring zur Reichspogromnacht und von Heinrich Himmler die nationalsozialistische Sprache und deren Denken. In der Posener Rede, eine der wenigen SS-internen Dokumente, erklärt Himmler vor SS-Schergen, wie sie beim Massenmord an den Juden „anständig bleiben“.

Wenn ein Politiker unserer Zeit „mit starkem Besen … den Saustall ausmiste[n]“ will, wir dabei „leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind“, und das alles mit „wohltemperierter Grausamkeit“ durchführen will (vgl. Hajo Funke auf Zeit Online vom 24.10.2019 und Raoul Löbbert auf ZEIT Online vom 21.1.2019), dann ergeben sich aktuelle Bezüge von selbst.

2019 11 08 Lesenacht Pogrom1Deshalb hatte der Abend auch einen gegenwartsbezogenen Rahmen: Nach dem Grußwort der Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg wurde die Tagesschau vom 9. Oktober 2019 zum Anschlag von Halle eingespielt. Daraufhin wurden Gedenkkerzen entzündet und „ein paar Gedanken zu Halle“ von Benedict Wells eingespielt, den die Hohenschwangauer Schulgemeinschaft 2019 als Pate des Projekts „Schule gegen Rassismus. Schule mit Courage“ gewählt hatte.

Begleitet wurden die inhaltlichen Blöcke mit passenden jüdischen Liedern („Bei mir bist du schejn“, „dos kelbl“), dem Lied der „Moorsoldaten“, das schon 1933 im KZ Börgermoor entstand, mit literarischen Szenen aus Ödön von Horvaths „Jugend ohne Gott“ („…was einer im Radio redet, darf kein Lehrer im Schulheft durchstreichen“), aus der „Blechtrommel“ Günther Grass` („Es war einmal ein leichtgläubiges Volk, das glaubte an den Weihnachtsmann, aber der Weihnachtsmann war in Wirklichkeit der Gasmann“) und mit dem Gedicht „Zahlen“ von Nelly Sachs, die von Astrid Richter und Daniel Frank in höchst beeindruckender Weise dargeboten wurden.

Nach „Zahlen“, das auf die Nummerierung der Häftlinge durch die SS hinweist, kam Anita Lasker zu Wort, die am 15. April 1945 - zwei Tage nach der Befreiung Auschwitz`s - der BBC das Grauen der Konzentrationslager und ihre Angst, dass die Welt dies nicht glauben könnte, schildert, aber mit der Hoffnung endet, nun vielleicht doch irgendwo überlebende Verwandte zu finden.

In der Stille danach wurden die sukzessive nach jedem Text gelöschten Kerzen wieder entzündet (und viele im Raum verteilte mehr) und das „Tote Hosen“-Lied „Willkommen in Deutschland“ eingespielt, das über 25 Jahre nach seiner Entstehung nichts an seiner aktuellen Aussage eingebüßt hat: „Dies ist das Land, in dem so viele schweigen ...“.

Mit der jungen Stimme Linda Rachel Sabiers „Für »nie wieder« ist es längst zu spät“ (SZ Magazin 16.10.19), gelesen wieder von Hengge und Kreutzer, endete der Abend: „Halle ist das, was passiert, wenn die demokratische Mehrheit schweigt und der Donner der Kanonen der Empörung so laut wird, dass wir das Orchester des Hasses gar nicht mehr hören. Kein gutes Gefühl.“

Danach war die Bühne leer und es folgte ein nachdenkliches Schweigen, das sich selbst nach der aus dem Off gesprochenen Verabschiedung „Wir danken Ihnen für Ihr Kommen und wünschen Ihnen einen guten Nachhauseweg“ nur langsam löste. Mit einem zum Handeln bereiten lauten Schweigen verließen die etwa 100 Besucher, darunter sehr viele Schülerinnen und Schüler, die Pausenhalle.

Unterstützt und erst möglich gemacht wurde dieser Abend durch die Beleuchtungs- und Tontechnik, die wie immer professionell von Herrn Oxynos gehandhabt wurde. Tausend Dank an ihn und alle Beteiligten des Abends.

Autoren:

Regina Hengge (Q11)
Anabel Kreutzer (Q11)
StR Daniel Frank
OStRin Claudia Geiger
StD Georg Grimm
StR Stephan Oxynos
StRin Astrid Richter
StDin Sabine Thilemann
OStR Florian v. Polenz

StD Georg Grimm, OStR Florian v. Polenz

--> Grußwort der Israelitischen Kultusgemeinde